Bild des Monats Mai 2012: Briefe als Gefühlsmedien
Das um 1664 entstandene Bild «Brieflesende Dame» des holländischen Malers Gabriel Metsu zeigt einen intimen Lesemoment. Gänzlich in die Lektüre vertieft sitzt eine dem Betrachter zugewandte Dame am Fenster, einen geöffneten Brief so in ihren Händen, dass das Tageslicht darauf fällt. Einen weiteren, geschlossenen Brief hält eine dem Betrachter abgewandte Magd in ihrer Linken. Die beiden Frauen befinden sich in einem Innenraum, der sich durch Näharbeit, möglicherweise Teil der Aussteuer, und einen Wäschekorb als weiblich auszeichnet – ganz im Sinne der zeitgenössischen Konstruktion von Intimität, welche genuin feminin konnotiert ist.
Das Bildinnere kollidiert auf verschiedene Weise mit der Aussenwelt: Als Verweis auf das Aussen fungiert das Fenster ebenso wie dessen gespiegelte Wiedergabe. Ferner schlägt die Magd einen Vorhang zurück, der den Blick auf ein Gemälde eines Schiffes auf hoher See freigibt. Steht das aufgewühlte Meer und das schwankende Schiff einerseits als Metapher für die Wogen der Liebe, so visualisiert das Bild im Bild andererseits offenbar die real existierenden Gefahren, in die sich der abwesende Briefabsender begeben hat. Zugleich tragen die Briefe eine andere Wirklichkeit in das Zimmer hinein. Jemand ist bei der Lesenden, ohne bei ihr zu sein. Das Gemälde verhandelt Präsenz und Absenz – und findet gerade für den Moment des Dazwischen einen Ausdruck.
Das Briefmedium selbst ist ein Dazwischen, welches Raum und Zeit zu überbrücken vermag. Immer einem eigenen zeitspezifischen Rhythmus unterworfen, waren Korrespondenzen im 17. Jahrhundert durch private, sporadische Briefbeförderung ebenso wie durch institutionalisierte, reguläre Botengänge moduliert.
Wird beim Schreiben immer schon der Moment des Lesens antizipiert, der lesende Empfänger imaginiert, werden Briefe zum Zwischenraum einer erdachten Zusammenkunft. Als Produkte der Trennung gelingt es ihnen, ebendiese zu überwinden wie zu memorieren. In diesem Sinne bilden Briefe das materielle Substrat einer Bindung. Nebst der Materialität der Schriftstücke kommt in zeitgenössischen Briefen der graphisch-materiellen Dimension von Schrift eine wichtige Bedeutung zu. Ist schon der Brief an sich Erinnerung an den Partner, wird dies potenziert durch die Schrift, welche als auratische Emotionsträgerin fungiert, wenn die Briefe manu propria verfasst werden. Dagegen erscheinen die Briefe auf diesem Bild als weisse Flächen: Das intermediale Spiel von Text und Bild lässt eine Leerstelle offen, die es für den jeweiligen Betrachter selbst auszufüllen gilt.